Ein Stück Stoff, das Würde geben soll:
In St. Pius wurden 50 Vorhänge fürs Übergangwohnheim genäht.
Seit kurzem hängen in den Zimmern des Übergangsheims in der Bayreuther Straße Vorhänge an den Fenstern. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, hat im städtischen Wohnheim für obdachlose Menschen bislang gefehlt. Pfarrer Florian Judmann und Irene Neuber aus der Pfarrei St. Pius haben das nun geändert.
Weil das Heim im Sprengel der katholischen Gemeinde liegt, suchte Pfarrer Judmann, der seit einem Jahr die Pfarreiengemeinschaft Zum guten Hirten leitet, den Kontakt mit den Bewohnern. Gemeinsam mit Robert Löwer, der als Arzt dort regelmäßig und ohne Bezahlung Sprechstunde hält, hat der Priester das Heim besucht. Er sei zunächst „sehr erschrocken“ gewesen: „Ich habe gesehen, was es heißt, in Deutschland ganz unten angekommen zu sein“, schildert Judmann seinen ersten Besuch. „Den Menschen, die hier leben, sieht man ihr Schicksal deutlich an“.
"Unheimliche Scheu"
Die Bewohner – es sind ausschließlich Männer, die in der Bayreuther Straße untergebracht sind – hätten eine „unheimliche Scheu“ vor ihm gehabt und sich sofort in ihre Zimmer zurückgezogen. „Als ob sie sich schämen würden wegen ihrer Armut“, so beschreibt Judmann seinen Eindruck. Später habe dann doch mit Vermittlung von Einrichtungsleiter und Sozialpädagoge Alexander Stucke das ein und andere Gespräch stattgefunden. Auf die Frage, wie und mit was die Pfarrei helfen könne, kam heraus: Mit Vorhängen, zum Zuziehen, als Schutz vor der Sonne – und vor neugierigen Blicken. „So ein kleines Stück Stoff steht für den Versuch, etwas Würde zu geben, zu zeigen, ich sitze nicht in einem Schaufenster“, befand Pfarrer Judmann. Er nahm Kontakt zu Irene Neuber auf, die in der Pfarrei St. Pius seit Jahren ehrenamtlich aktiv ist und als versierte Hobbyschneiderin schon etliches für die Pfarrei genäht hat, darunter Gewänder für 30 Kommunionkinder. „Kein Problem!“ sagte die 80-Jährige sofort und setzte sich an die Nähmaschine. Die Stoffe für 50 Vorhänge und 25 Scheibengardinen spendete die vor kurzem aufgelöste Bekleidungsfachschule aus ihrem Fundus, das nötige Gardinenband kam kostenlos von der Leiderer Firma Hager.
„Wir begrüßen es sehr, dass Sie uns unterstützen, die Bewohner auf den Weg zurückzubringen“, betonte Bürgermeisterin und Sozialreferentin Jessica Euler (CSU) bei einem Ortstermin vergangene Woche. Dabei waren auch Rosa Thul, Leiterin des Amts für soziale Leistungen, Dr. Robert Löwer, Hausleiter Stucke, Hausmeister Thorsten Dyroff, Pfarrer Judmann und unser Medienhaus. Ein Gespräch mit den Bewohnern war nicht möglich, sie zeigten sich nicht.
"Wir sind weiter dran"
Warum es in dem seit Mitte der Neunziger Jahre als Wohnheim für Obdachlose genutzten, ehemaligen US-Sanitätsgebäude weder Vorhänge noch Rollos in den Zimmern gebe, begründete Euler so: „Wir haben hier schon vieles verbessert, aber alles auf einmal geht nicht.“ Zudem spielten Sicherheitsgründe eine Rolle: Zum einen wegen Feuer-, zum anderen wegen möglicher Suizidgefahren. Das Heim sei „als Übergang“ eingerichtet, es solle keine Endstation für die Bewohner sein, meinte Euler. Amtsleiterin Thul verwies auf das so genannte „Integrale Konzept der Wohnungslosenhilfe“ (siehe Stichwort), in dem viel von vernetzten Angeboten und konkreten Hilfen die Rede sei. „Es ist seit 2015 bereits viel passiert, wir sind weiter dran.“ Man habe tatsächlich „gute Erfolge“ erzielt, meinte auch Heimleiter Alexander Stucke. Aber es fehle eben überall Wohnraum, gerade für arme und sozial schwache Menschen. Und der Teufelskreis aus Armut, Sucht, Erkrankung, familiären und beruflichen Probleme unterlaufe oft auch alle Bemühungen, sagte der Mediziner Löwer. So käme es auch, dass einige Bewohner nicht nur für ein paar Monate, sondern bereits seit Jahren in der Bayreuther Straße lebten. Viele von ihnen erhielten Hartz 4 oder andere Sozialleistungen, andere eine Rente, einige hätten auch eine Arbeitsstelle. Im Dachgeschoss gebe es seit kurzem weitere Räume, in denen das Projekt „Wohnen üben“ stattfindet. Es sei der Versuch, Langzeituntergebrachte wieder „mietfähig“ zu machen.
„Ich finde die Einrichtung hier super“, stellte Pfarrer Judmann klar. Er will gemeinsam mit seiner Gemeinde den Kontakt zum Heim und den Menschen darin ausbauen und plant weitere Spendenaktionen. comü
Zahlen und Fakten: Obdachlosigkeit in Aschaffenburg
Mit durchschnittlich 50 Menschen sind die Obdachloseneinrichtungen in der Stadt Aschaffenburg belegt. Das geht aus dem aktuellen „integralen Konzept der Wohnungslosenhilfe“ des Amts für soziale Leistungen hervor. Im Übergangswohnheim in der Bayreuther Straße 8 leben derzeit 24 Männer, Betten gibt es für 30 bis maximal 40. Dazu kommen sieben Plätze für das neue Projekt „Wohnen üben“. Zwölf Plätze sind für Frauen, Paare und Familien im Wohnbereich des Übernachtungsheims in der Leinwanderstraße 4 vorgesehen. Sieben junge Erwachsene leben im Bereich „Junges Wohnen“ in der Lange Straße, der unter der Trägerschaft von Brücke e.V. steht. Hinzu kommen laut Amt 10 bis 15 weitere Personen, die vorübergehend in Hotels/Pensionen oder angemieteten Wohnungen untergebracht sind.
Im Durchgangsbereich des Übernachtungsheims in der Leinwanderstraße verzeichnet die Stadt durchschnittlich 70 Übernachtungen im Monat.
Die Stadt Aschaffenburg hat laut Bayerischer Gemeindeordnung aus „Gründen der Sicherheit und der Ordnung“ die Verpflichtung, Obdachlosigkeit zu verhindern bzw. dafür zu sorgen, dass wohnungslose Menschen „zumindest vorübergehend und notdürftig untergebracht oder beherbergt“ werden. Das „integrale Konzept“ will aber mehr: Es soll durch vernetzte Angebote, durch Betreuung und Beratung den Menschen ohne Obdach Perspektiven bieten und Wohnungslosigkeit im Vorfeld gar nicht erst entstehen lassen. comü
Quelle: Main-Echo vom 18. September 2019, Cornelia Müller